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Sprossenwand - Magazin im DTB

Team Gerätturnen

Lebhaft und aufgedreht

07.06.2021 16:02

Sarah Voss im Portrait.

Sarah Voss | Bildquelle: Cheng
Sarah Voss | Bildquelle: Cheng

Einfach so drauflos, das ist nicht die Art von Sarah Voss. Die 21-Jährige geht alles sehr überlegt an. In ihrem Sport hat sie dafür eine Erklärung gefunden. „Ich bin nicht so belastbar“, sagt sie. Vor allem während des Wachstums hatte der mittlerweile 1,67 Meter lange Körper der gebürtigen Frankfurterin einige Probleme bereitet. Diese Phase ist vorbei. Und dennoch: „Bevor ich eine Million Versuche mache, bis etwas klappt, denke ich erst einmal darüber nach, wie die Lösung aussehen könnte.“

Beim Reflektieren über die Bewegungen und Spüren einzelner Details hat sich die mittlerweile für das TZ DSHS Köln startende Turnerin von Trainern wie Vorbildern gleichermaßen beeinflussen lassen. Fabian Hambüchen gehört dazu, den die Hessin schon in Wetzlar kennenlernte, nachdem sie „als Küken“ für die Talentgruppe im dortigen Landesleistungszentrum gesichtet worden war. Oder ihr Heimtrainerteam mit Shanna Poljakowa, Pia Tolle und Yevgeniy Shalin; mit Letzterem, sagt sie, habe sie schon „sehr in die Tiefe gehende Gespräche“ über das Turnen geführt.

Dabei wirkt Voss zwar auf den ersten Blick eher ruhig und zurückhaltend. Doch eigentlich, sagt die deutsche Mehrkampfmeisterin von 2019, sei sie immer schon sehr lebhaft und aufgedreht gewesen. Das, verbunden mit einem immensen Bewegungsdrang, war auch der Grund dafür, warum sie ihre Mutter einst zum Kinderturnen bei der SU Nieder-Florstadt brachte. Damals wohnte die Familie in der Wetterau, später zog sie ins Rheinland, nach Dormagen um. Von dort führte der sportliche Weg der bewegungsbegabten Tochter über Düsseldorf und Bergisch Gladbach nach Köln, wo Poljakowa sie nach einem Probejahr unter ihre Fittiche nahm und Voss gemeinsam mit deren Vorturnerin Oksana Chusovitina in der Halle stand. Auch von der mehrmaligen Welt- und Europameisterin schaute sich die Jüngere einiges ab.

Dass die beiden unter anderem eine besondere Stärke am Sprung verbindet, ist aber Zufall. Voss sah in ihren Qualitäten dort die Möglichkeit, eine Lücke im Nationalteam zu füllen. Denn am Tisch mangelte es der Riege des Deutschen Turner-Bundes (DTB) immer wieder an Spezialistinnen mit hochwertigen Elementen. Als Voss dann 2016 den Yurtschenko mit Doppelschraube präsentierte, öffnete ihr das die Tür zur ihrem ersten Europameisterschaftsstart bei den Titelkämpfen in Bern. Auch am Schwebebalken gilt sie als besonders begabt. „Nicht so, was die Gymnastik angeht“, sagt sie. Aber gerade bei der Akrobatik habe sie „keine Hemmungen“ und insgesamt auf dem nur zehn Zentimeter schmalen Grat „ein gutes Gefühl“.

Obwohl sie die Qualifikation für die Weltmeisterschaften in Montréal noch verpasste, war 2017 für die Dormagenerin persönlich ebenfalls ein besonderes Jahr, erreichte sie doch unter anderem beim sehr stark besetzten Challenge Cup in Paris sowohl am Sprung als auch am Balken das Finale. „Da merkte ich, du hast die Chance, noch mehr zu schaffen.“ Das bewies sie 2018 mit einem vierten EM-Rang am Sprung sowie ihrem Weltmeisterschaftsdebüt in Doha. Zuvor hätte sie beim DTB-Pokal in Stuttgart, wo sie erstmals einen Mehrkampf-Weltcup absolvieren durfte, „sogar am Podest kratzen können“, wäre die am Ende Siebtplatzierte nicht zweimal gestürzt.

Doch danach war „ein bisschen die Luft raus“. Turnen, sagt Voss, „hat auch viel mit dem Kopf zu tun“. Und der schien nach so vielen neuen Eindrücken und anstrengenden Belastungsphasen müde. Bei einem Trainingslager in Los Angeles holte sie sich neue Motivation. „60 Mädchen in einer Halle, die alle ihren Traum leben“, das hat der Deutschen in den USA imponiert. Sie selbst probierte in dieser Zeit einiges Neue aus und fand somit wieder Spaß am täglichen Üben.

Zurück in Deutschland, trat sie wegen des anstehenden Abiturs aber erst mal kürzer. Doch auch die reduzierte Zahl an Trainingseinheiten wirkte sich positiv aus. Bei einem Bundesligastart mitten in der Prüfungsphase merkte sie, „dass ich mein Zeug kann“. Sorgfältig baute sie danach wieder auf und avancierte aus Sicht von Bundestrainerin Ulla Koch mit stabilen Übungen klammheimlich zur Favoritin auf den deutschen Mehrkampftitel, der Anfang August in Berlin vergeben wurde.

Voss, die davon nichts wusste, enttäuschte nicht und gewann neben dem Vierkampf auch noch Gold am Sprung und am Schwebebalken. „In der Woche davor hatten wir im Training Stresssituationen simuliert.“ Entsprechend gut sei sie auf alles vorbereitet gewesen, was hätte passieren können. Dass sie als Brillenträgerin, die im Wettkampf auf dieses Hilfsmittel verzichtet, im Ernstfall nicht scharf sieht, behindert sie nicht.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben mal sagen könnte, ich bin deutsche Mehrkampfmeisterin.“ Doch ändern werde das bei ihr nichts. „Ich werde ganz normal weitertrainieren.“  Der WM-Start in Stuttgart war für sie „ein Riesending“. Andere würden vielleicht lieber woanders aufs Podium gehen. Doch sie selbst freute sich besonders darauf, Freunde und Familie in der Nähe zu haben und so zusätzlichen Rückenwind zu spüren. Dass sie dabei direkt in die Finals am Schwebebalken und im Mehrkampf einzog und sich unter den Top Ten Turnerinnen der Welt platzieren konnte, war für sie das Sahnehäubchen einer tollen Heim-WM.

Die Pandemie-Zeit überstand die Rheinländerin auf sehr findige Art und Weise. Mit einem eigenen kleinen Schwebebalken und speziellen Übungen hielt sie sich im elterlichen Garten so gut es ging fit. Ab dem Frührjahr 2021 zeigte die Formkurve der jungen Turnerin dann immer deutlicher nach oben und so sicherte sie sich bei den Olympiaqualifikationen des DTB in Dortmund und München das Ticket zu ihren Spielen souverän.

Des Weiteren geht die zielstrebige Sportlerin auch ihr Studium an. An der SRH Fernhochschule in Riedlingen ist sie für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben. Auch das geht sie exakt geplant an, weiß genau, welche Module sie wann absolvieren muss, um nur Klausuren zu schreiben, die in ihre Jahresplanung passen. Einfach so drauflos, das ist ihre Art nun mal nicht.