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Sprossenwand - Magazin im DTB

Thema des Monats: Auch der Kopf muss mitspielen

26.08.2008 09:14

Stellenwert der psychischen Komponente beim Turnen

Um eine erfolgreiche Turnerin oder ein erfolgreicher Turner zu sein, muss ein Sportler viele verschiedene Fähigkeiten aufweisen: Dazu zählen z. B. das Talent für die Durchführung komplexer Bewegungen, Beweglichkeit und eine außerordentlich gute Koordination. Aber auch der Kopf muss "mitspielen". "Mentale Stärke" lautet das Stichwort.

Diese ist prinzipiell in allen Sportarten eine der Grundvoraussetzungen, um - speziell auf hohem Niveau - aussichtsreich zu sein. Für das Turnen gilt dies jedoch im Besonderen. Schließlich kommt es hier nicht nur darauf an, eine bestimmte Leistung zu erbringen, sondern diese muss auch - mittels des Körpers - entsprechend dargestellt werden. Der Athlet ist gefordert sich zu präsentieren. "Das hat etwas mit meiner Person zu tun. Ich muss es nach außen ausdrücken können. Dazu muss ich in der Lage sein, alles, was damit zusammenhängt, in meinem Kopf abgespeichert zu haben, um es in der jeweiligen Situation abrufen zu können", sagt Werner Mickler vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln.

Das innere Drehbuch

Hier kommt das Grundprinzip des mentalen Trainings zum Tragen: Beim "mentalen Training" wird die eigene Übung immer wieder im Kopf durchgegangen, so dass nicht nur irgendwann, gewissermaßen "wie ein Film", die visuelle Vorstellung davon vorhanden ist, sondern das eigene Handeln auch gespürt und gefühlt werden kann. "Ich muss ein inneres Drehbuch erarbeitet haben, so dass ich weiß, was ich in welcher Situation zu tun habe", erläutert der Experte.

Denn: Im Spitzenbereich, aber auch im Wettkampfsport generell, kommt der einzelne Sportler immer wieder in neue Drucksituationen. Jeder Wettkampf stellt eine solche Situation dar, in der man gefordert ist, an einem bestimmten Tag und zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Leistung abzurufen. Ungünstige Umstände wie Schlafmangel oder Nervosität dürfen dann keine Rolle spielen - in dem Moment muss die persönliche Spitzenleistung erbracht werden! "Das muss ich üben, um das überhaupt zu beherrschen", erklärt Werner Mickler. Bereits seit mehreren Jahren arbeitet der Kölner intensiv mit den Frauen vom Turn-Team Deutschland zusammen und unterstützt die Athletinnen dahingehend, dass sie lernen, in spezifischen Situationen entsprechend zu agieren. Auch an den jeweiligen Stützpunkten in Bergisch Gladbach, Chemnitz und Stuttgart stehen den Sportlerinnen Ansprechpartner zur Verfügung, so dass bei auftretenden Problemen unmittelbar Hilfestellung gegeben werden kann.

Simulation von Drucksituationen

Damit die Turnerinnen insbesondere Drucksituationen erfolgreich zu bewältigen lernen, führen Mickler und seine Kollegen mit ihnen sogenannte "Einmaligkeitstrainings" durch, d. h. an einem bestimmten Tag werden spezielle Übungen abgefordert. Natürlich ist es nie möglich, die Original-Wettkampf-Atmosphäre zu simulieren, jedoch können die Athletinnen so lernen, sich auf einen bestimmten Zeitpunkt zu konzentrieren und genau dann die jeweilige Leistung abzurufen.

Auch die Bewertung durch die Kampfrichter versuchen die Psychologen zu simulieren: Dazu wird üblicherweise eine neutrale Kampfrichterin eingeladen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Übungen abfordert und diese auch bewertet. Dadurch ist - unabhängig von den Trainern - eine Rückmeldung zu Auffälligkeiten, Fehlern etc. gewährleistet.

Vielfach macht Athletinnen und Athleten auch der große Erwartungsdruck von außen zu schaffen. Dieser ist unterschiedlich hoch, je nachdem welchen Stellenwert das Ereignis genießt. So ist der Erwartungsdruck bei den vor wenigen Tagen zu Ende gegangenen Olympischen Spielen ungleich höher als bei anderen Veranstaltungen. Auch ist das Medieninteresse hier deutlich höher und die Zahl der Zuschauer größer. Für die Sportler bedeutet dies, sich im Vorfeld damit auseinander zu setzen.

Wichtig ist es in diesem Zusammenhang zu lernen, sich abzuschotten. Das heißt: Alles, was "drumherum" passiert, "muss ich aus meinem Kopf herausbekommen", beschreibt Werner Mickler. Bei Wettkämpfen, bei denen die mediale Berichterstattung enorm hoch ist, ist jeder Athlet frühzeitig gefordert, für sich persönlich zu entscheiden, wie er mit Interviewanfragen, z. B. kurz vor einem Wettkampf oder gar zwischendrin, umgeht. "Nein" zu sagen, weil man sich auf seine anstehende Darbietung konzentrieren möchte, fällt vielen Sportlern nicht leicht. Dies kann und sollte man aber lernen.

Jedoch empfinden nicht alle Sportler Interviews unmittelbar vor einem Wettkampf als störend. Vielmehr sind große individuelle Unterschiede zu beobachten. Deshalb ist es von Bedeutung, dass jeder Einzelne eruiert, was ihm am meisten hilft, "um gut in den Wettkampf reinzukommen", so Mickler. Während es für manche Turner wichtig ist, sich zurückzuziehen und mit "Knopf Ohr" Musik zu hören, um sich nicht mit dem Wettkampf auseinandersetzen zu müssen, hilft es anderen, sich zu unterhalten und sich somit komplett von dem Anstehenden abzulenken. Wieder andere wollen ihre absolute Ruhe haben und noch einmal in Gedanken durchgehen, was sie in Kürze "zu tun" haben.

Mentales Training als ein Baustein von vielen im Turnen ist auch gerade im Hinblick auf das Verhalten in Situationen wichtig, in denen es "mal nicht so läuft". "Fehler sind vollkommen normal. Sie werden passieren", sagt Werner Mickler. Wichtig sei der Umgang damit: "Wenn eine Athletin aus meiner Mannschaft vor mir einen Fehler macht, muss ich nicht die Super-Kür zeigen, um diesen Fehler wieder auszuradieren. Sondern es reicht, wenn ich meine normale Leistung bringe. Denn mit Fehlern müssen wir leben", erklärt der Experte, der diese Prinzipien seinen "Schützlingen" immer wieder verdeutlicht. Wichtig ist es zudem, ein Gerät innerlich "abzuhaken", an dem es nicht so gelaufen ist, wie man sich dies zuvor vorgestellt und gewünscht hatte. Denn: Bleibt der Fehler im Kopf "hängen", ruht die Aufmerksamkeit viel zu stark auf dem Gerät, das eigentlich schon abgehandelt ist - "und diese Aufmerksamkeit fehlt für das Gerät, das jetzt ansteht", so Werner Mickler. Der Experte fügt hinzu: "Dass dies nicht geschieht, kann ich trainieren."

Olympia als Wettkampf wie jeder andere

Die deutschen Turnerinnen zeigten in der jüngsten Vergangenheit bereits mehrfach, dass sie (auch) mental deutlich stärker geworden sind. Doch ausgerechnet bei den Olympischen Spielen in Peking schafften es die DTB-Damen nicht, das zuvor Gelernte im Wettkampf tatsächlich umzusetzen. Die Besonderheit der Situation ließ einen Großteil der Turnerinnen ein wenig zu stark aufgeregt sein. Schließlich hatte sich erstmals seit 16 Jahren wieder eine deutsche Damenmannschaft für die olympischen Wettbewerbe qualifiziert. Zuletzt waren Deutschlands Turnerinnen 1992 in Barcelona als Team vertreten. "Die Mannschaft ist relativ jung und hat entsprechend noch keine so große Wettkampferfahrung, wie sie notwendig gewesen wäre. Die meisten von ihnen waren das erste Mal bei Olympischen Spielen dabei. Leider waren sie nicht in der Lage, mit dem Olympia-Hype umzugehen", sagt Werner Mickler. Man könne zwar vieles trainieren und simulieren, "Olympia" jedoch nicht, so der Psychologe.

In diesem Zusammenhang spielt z. B. eine Rolle, dass Olympische Spiele nur alle vier Jahre stattfinden oder es ein olympisches Dorf gibt. "Dies alles ist gerade für die jungen Athletinnen eine große Herausforderung. Sie wussten nicht, was auf sie zukommen würde und waren so angetan von allem, dass sie sich nur schwer auf ihre Wettkämpfe konzentrieren konnten", sagt der Sportpsychologe. Von daher erstaunt es nicht, dass es in erster Linie der routiniertesten Turnerin aus dem deutschen Team, Oksana Chusovitina, gelang, sich im National Indoor Stadium in "Normalform" zu präsentieren. Sie turnte schon vor 16 Jahren erstmals bei Olympischen Spielen vor großem Publikum - damals noch für die GUS, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.

Natürlich zählt die Teilnahme an Olympischen Spielen für jeden Sportler zu den Highlights im Verlauf der jeweiligen Karriere. Doch gerade die starke Betonung des olympischen Wettbewerbs - u. a. durch die Medien - als etwas "ganz Besonderes" und "immens Wichtiges" kann auch großen Druck erzeugen. Wie auch bei den deutschen Turnerinnen in Peking beobachtet werden konnte, war bei einigen von ihnen der Druck plötzlich derart hoch, dass sie nicht dazu in der Lage waren, die Leistungen, die sie aufgrund ihrer Vorbereitung und ihrer Fähigkeiten eigentlich hätten zeigen können, abzurufen.

"Wenn man sich aber den Wettkampf bei Olympischen Spielen ansieht, dann ist dieser kein anderer als jeder andere Wettkampf. Das ist das, was die Athletinnen und Athleten verstehen müssen. Sie meinen, sie müssten bei Olympia eine super-gute Leistung bringen. Wenn ich aber im Kopf habe, dass ich diese Leistung jetzt bringen muss und entsprechend alles riskiere, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es schief geht", sagt Werner Mickler. Vielmehr sei es wichtig sich klar zu machen, dass es reiche, wenn man das abruft, was man trainiert und "drauf" hat, so der Diplom-Sportlehrer. Hier zeigt sich somit die große Herausforderung für Athletinnen und Athleten, die es geschafft haben, sich für dieses Großereignis zu qualifizieren: Einerseits sind Olympische Spiele natürlich etwas Besonders, aber jeder Sportler muss lernen, so in den olympischen Wettkampf zu gehen wie in jeden anderen.

Viele Faktoren von Relevanz

Fest steht zwar, dass die Turnerinnen "ihre Leistungen" nicht gebracht haben, bzw., wie Werner Mickler es formuliert, "es nicht so funktioniert hat, wie wir es uns vorgestellt haben". Jedoch greift es zu kurz, wenn bei der "Ursachenforschung" nur die mentale Komponente ins Spiel kommt. Nicht unterschätzt werden darf z. B., dass alle Athletinnen Hochleistungssport und berufliche Ausbildung vereinbaren müssen. Denn im Unterschied zu Sportlern aus vielen anderen Sportarten gehören sie keiner Sportfördergruppe der Bundeswehr oder Ähnlichem an. Dies bedingt ein hervorragendes Zeitmanagement. "Die jungen Leute, die teilweise erst 16, 17, 18 Jahre alt sind, sind über das ganze Jahr hinweg hoch belastet. Man muss Respekt vor dem haben, was die Mädchen leisten", sagt der Sportpsychologe und weist darauf hin, dass die Turnerinnen ihre Übungen zudem hinsichtlich der Schwierigkeiten aufgestockt hätten. Da die neue(re)n Übungen noch nicht so häufig wiederholt worden seien wie die bisherigen, sei es klar, dass Fehler passierten. "Darüber hinaus ist Turnen eine Sportart, in der jede kleine Verletzung bereits hinderlich ist", meint Werner Mickler.

Damit hatte ausgerechnet bei Olympia auch Reck-Weltmeister Fabian Hambüchen zu kämpfen. Insbesondere an seinem Paradegerät behinderte ihn eine Fingerverletzung, so dass der Traum vom Gewinn der Goldmedaille zwar platzte, der 20-Jährige aber in einem Weltklassefeld Bronze holte. Dies bedeutete die erste Medaille bei Olympischen Spielen seit 1996! Dass der deutsche Spitzenturner, der gemeinsam mit seinem Onkel Bruno ebenfalls viel psychologisch arbeitet, in Peking zuvor zweimal unfreiwillig vom Reck absteigen musste, hat nach Ansicht von Mickler "nicht unbedingt an den Nerven gelegen". Denn: "Fabian hat immer wieder nachgewiesen, dass er mental unheimlich stark ist." Vielmehr spielten in diesem Zusammenhang mehrere Faktoren eine Rolle, so der Sportpsychologe: Zum einen spickte der Reck-Spezialist seine Übung mit neuen Höchstschwierigkeiten, die er zuvor noch nicht so oft wiederholen konnte, wie andere Teile. Hinzu kommt, dass auch Fabian Hambüchen in den vergangenen Jahren hohe Belastungen erfahren hat. Unter anderem baute er parallel zum Spitzensport sein Abitur. Außerdem behinderte ihn die erwähnte Verletzung. Dass er trotz allem an Boden, Barren und mit der Mannschaft jeweils Rang vier erreichte und gegen Spezialisten an diesen Geräten um Medaillen mitkämpfte, zeugt von der Klasse der deutschen Nummer 1.

Claudia Pauli