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Sprossenwand - Magazin im DTB

Team Gerätturnen

Plötzlich stand er mit Hambüchen in der Halle

25.09.2019 19:30

Philipp Herder im Portrait.

Philipp Herder | Bildquelle: DTB
Philipp Herder | Bildquelle: DTB

Es sind die kleinen Erfolge, die Philipp Herder an seiner Sportart faszinieren. Die Momente, in denen eine neues Element nach vielen Versuchen plötzlich funktioniert. Oder eines, das eigentlich schon mal abgehakt war, einen erneuten Aufschwung erfährt. Doch es macht den 28 Jahre alten Berliner auch stolz, dass er überhaupt Bewegungen beherrscht, „die andere nicht mal im Traum schaffen“.

Seit 2014 ist der Sportsoldat aus der Männer-Riege des Deutschen Turner-Bundes (DTB) kaum wegzudenken. Damals durfte er, für ihn selbst ein wenig überraschend, zu den Weltmeisterschaften nach Nanning mitfahren. Schon die Vorbereitung auf die Premiere auf großer Bühne waren für den Sportsoldaten ein Erlebnis. Plötzlich stand er zusammen mit Fabian Hambüchen und Marcel Nguyen in der Halle, mit Disziplinkollegen also, zu denen er früher stets hochgeschaut hatte. Das und die Titelkämpfe selbst, die in China „groß aufgezogen“ waren, stellten für den Debütanten „eine Riesen-Motivation“ für seinen weiteren Karriereweg dar.

Begonnen hatte dieser in der Hauptstadt, in einer kleinen Halle im Stadtteil Marzahn. Für die Übungseinheiten dort, die Herder selbst im „leistungsorientierten Breitensport“ ansiedelt, war das Bewegungstalent im Schulsport gesichtet worden. Gleich das Schnuppertraining machte ihm „mega viel Spaß“.

Nach der zweiten Klasse folgte der Sprung auf die Sportschule, die damalige Werner-Seelenbinder-Schule, die heute als Schul- und Leistungssportzentrum Berlin firmiert. Eine Kaderüberprüfung, die er als Zweiter abschloss, hatte als Sprungbrett dafür gedient. Von da an trainierte der Neuzugang zweimal am Tag, schaute von Wettkampf zu Wettkampf, empfahl sich für die jeweiligen Junioren-Auswahlen seiner Altersklasse und musste sich auch durch Phasen durchboxen, in denen es ihm an Lust auf die harte Arbeit mangelte.

2010 sorgte ein Unfall dafür, dass er alles aufgeben wollte. Bei einer zweieinhalbfachen Schraube am Boden überdrehte er so stark, dass es für den anschließenden Salto nicht mehr reichte und Herder auf dem Kopf landete. Ein Teil seiner Bandscheibe zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel musste entfernt, die Stelle versteift werden. „Im Kopf hatte ich damals mit dem Leistungssport abgeschlossen“, erzählt der Turner. „Just for Fun“ machte er sich noch mal für die Bundesliga fit, präsentierte dort allerdings viel einfachere Übungen, als er sie vorher beherrscht hatte. Sein damaliger Trainer Roland Ankert schlug ihm vor, doch wieder auf den abgebrochenen Weg zurückzukehren. „Er hat mir alte Videos gezeigt und gesagt, ich soll am nächsten Tag um 7.30 Uhr in die Halle kommen.“ Über Nacht entschloss sich Herder, pünktlich auf der Matte zu stehen. „Bereut habe ich das bisher nicht.“

Vier WM- und zwei Europameisterschaftsteilnahmen hat der Physik-Student der Humboldt-Universität seitdem hinter sich gebracht, war Deutscher Meister an Barren und Boden und verfehlte den nationalen Mehrkampftitel beim Deutschen Turnfest in Berlin 2017 nur ganz knapp. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro war er als Ersatzmann vor Ort. Die Eindrücke, die er dabei sammelte, pushten ihn noch einmal zusätzlich, alles zu geben, um bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 selbst vor die Kampfrichter zu treten. Mit Erfolg!

2019 verzichtete er deshalb darauf, einen möglichen EM-Start in Stettin anzupeilen. „Man hetzt von Wettkampf zu Wettkampf“, nun wollte der Mehrkampffinalist der WM von Montréal sich Zeit nehmen, um seine Übungen aufzustocken. Doch ein Sturz im Mai vom Barren durchkreuzte diese Pläne. Diesmal war der Bereich zwischen dem vierten und fünften Halswirbel betroffen, das vordere Längsband gerissen. Wieder war der Gedanke an ein diesmal unfreiwilliges Karriereende da. Doch als eine Entwarnung erfolgte, nahm der Athlet des SC Berlin sich vor, bei den deutschen Meisterschaften Anfang August vor heimischer Kulisse auf jeden Fall anzutreten. „Mit einem WM-Start in Stuttgart habe ich damals nicht gerechnet.“

Lange in Führung liegend, reichte es im Sechskampf für den vierten Platz und damit die Gelegenheit, sich bei der zweiten Qualifikation für das Großereignis erneut zu zeigen. Nach dem abschließenden Länderkampf gegen Großbritannien und Rumänien in Backnang hatte er sich mit dem „Trostpreis“ des sechsten Mannes im DTB-Quintett bereits abgefunden. Bis der Ausfall von Marcel Nguyen feststand. Diesen so gut wie möglich zu kompensieren, hat der Nachrücker sich vorgenommen. „Seit Nanning habe ich mein Zeug fast immer abrufen können“, gilt Herder als Stabilisator des Nationalteams, als einer, auf den man sich verlassen kann. „Ein klassischer Mehrkämpfer eben“, wie er selbst sagt. Eine Eigenschaft, die Olympiacoach Valeri Belenki absolut zu schätzen weiß und mit der Nominierung für die Spiele in Tokio honorierte.

Die Heim-Titelkämpfe 2007, ebenfalls in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle, hat Herder im Übrigen noch gut in Erinnerung. Das damalige D-/C-Kader-Mitglied verbrachte die Tage in einem Kadercamp, zu dem das Zuschauen bei den „Großen“ gehörte. „Das war eine coole Sache“, urteilt er heute. „Wenn ich daran denke, dass ich dann selbst dort unten stehe, bekomme ich schon Gänsehaut.“ Es ist auf jeden Fall einer der größeren Erfolge in der Karriere des Philipp Herder. Zudem einer, den er sich gegen alle Widrigkeiten hart erkämpft hat.