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Sprossenwand - Magazin im DTB
Foto: freepik

 

Die Rolle von sportpsychologischem Training im Turnen

Ein praktischer Leitfaden für den Einstieg

Sportpsychologie spielt in der heutigen Zeit eine entscheidende Rolle im Trainingsalltag der deutschen Spitzenturnerinnen und -turner. Doch auch im Breitensport sollte dieses Thema als ein wichtiger Baustein für sportliche Erfolge nicht unterschätzt werden. Dr. Laura Voigt, promovierte Expertin in (angewandter) Sportpsychologie und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen Institut an der Deutschen Sporthochschule Köln, hat mit uns über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse gesprochen, die sie am Bundesstützpunkt in Mannheim gesammelt hat. Dieser Ratgeber basiert auf Dr. Laura Voigts umfangreicher Praxiserfahrung im Turnsport, räumt mit Vorurteilen auf und gibt Best-Practice Beispiele für eine Implementierung in euer Vereinstraining.

Definition von psychosozialen Ressourcen im Sport

Mentaltraining, Entspannungsübungen, Traumreisen oder autogenes Training sind mit Sicherheit Begriffe, welche ihr in eurer Laufbahn als Sportler*in oder Trainer*in bereits gehört habt.

Doch wie genau ist der Zusammenhang dieser Begriffe zu definieren und was bedeutet es sportpsychologisches Training anzuwenden?

Teilt man den Begriff Sportpsychologie auf, so wird schnell klar, dass die Bezeichnung auf zwei Ziele aus ist: Die Leistungssteigerung und die Unterstützung des Wohlbefindens. "Nur ein gesunder Athlet ist ein leistungsstarker Athlet", beschreibt Dr. Laura Voigt den wichtigen Zusammenhang zwischen einem starken Körper und ausgeglichenem Geist. Zudem sei der soziale Aspekt im Bereich der psychosozialen Ressourcen nicht zu vernachlässigen: "Soziale Unterstützung kann eine wichtige Ressource im Umgang mit Stress sein. Da kann manchmal ein Kaffee mit der besten Freundin mehr bewirken als eine spezielle Trainingsmethode." Daher ist es wichtig, diesen Baustein nicht nur kleinteilig als "ich mach mal eben noch eine Traumreise und gut ist" zu sehen, sondern als ganzheitlichen Bereich, der nachhaltig und regelmäßig in das Training eingebunden wird.

Folgende Teilbereiche des sportpsychologischen Trainings werden beschrieben:

  • ZIELSETZUNG: Realistische Ziele gemeinsam als Team definieren, was soll durch das Training erreicht werden und welche realistischen Ergebnisse können bei einem Wettkampf erwartet werden. Dazu können Zusatzziele wie ein Minimal- und Optimalziel festgelegt werden, sodass die Erwartungshaltungen für alle klar sind.   
  • BEWEGUNGSVORSTELLUNG: Visualisierung der Bewegungs-Abläufe als fester Bestandteil des Trainings von Elementen.
  • AKTIVATIONSREGULATION: Training von bewusster Regulierung der inneren Anspannung und Entspannung. Dabei können die Abläufe der Wettkämpfe im Vorfeld geplant werden. Wann sind Phasen zwischen den Geräten, wo entspannt werden kann und wann sollte man sich spätestens wieder aktivieren. Festgelegte und trainierte Routinen geben Sicherheit und Stabilität.
  • AUFMERKSAMKEITSREGULATION: Aufmerksamkeit der Wahrnehmung in der Übung definieren, beispielsweise am Balken wahrzunehmen, wo hingeschaut wird für eine gute Balance. Training von bewusster Wahrnehmung während Elementen oder im Wettkampf. 
  • SELBSTGESPRÄCHSREGULATION: Lernen, mit sich selbst zu kommunizieren und die Eigenmotivation sowie das Selbstbewusstsein zu stärken. Mit einem „Gedankenstopp“ können beispielweise wiederkehrende negative Gedanken gestoppt werden und durch leistungsförderliche Gedanken ersetzt werden. 
  • SELBSTWIRKSAMKEITSTRAINING: Trainiert den Glauben an die eigenen Fähigkeiten. Hier machen Athlet*innen eine Prognose zu der erwarteten Leistung in einer klar gestellten Aufgabe und legen Konsequenzen für das Nichterreichen der Leistung fest.  
  • UNMITTELBARE WETTKAMPFVORBEREITUNG: Baut auf den oberen Punkten auf und bezieht sich auf die mentale Planung und Vorbereitung des Wettkampftages. Diese Planung fängt bereits am Vorabend an: Wie wird die Tasche gepackt, damit nichts vergessen wird? Definition von Routinen, Festlegen von Anspannung- und Entspannung zwischen den Geräten, Selbstgespräche, Gedankenstopp von negativen Gefühlen und der Umgang mit ungeplanten Gegebenheiten durch Flexibilität sind Themen, die hier einfließen.
Trampolinturnen | Foto: DTB

Die Rolle eines Sportpsychologen im Trainer-Team

"Die Einbindung als Sportpsychologin in den Trainings-Alltag der Turnerinnen und Turner ist sehr individuell. Wir können als Teil des Trainer-Teams in der Gesamtplanung unterstützen oder in 1:1-Sessions mit den Aktiven in der Halle oder im externen Raum arbeiten", beschreibt Voigt die mögliche Zusammenarbeit. Die Gespräche im Vorfeld seien dabei sehr wichtig, um die Erwartungshaltungen von allen Seiten zu definieren. Dabei gebe es keinen festen Rahmen, stattdessen solle die Art der Einbindung immer anhand der Gegebenheiten vor Ort entschieden werden. Sportpsycholog*innen haben aufgrund des psychologischen Backgrounds eine Schweigepflicht gegenüber den Klient*innen. Das helfe meist, da die Turner*innen sich öffnen können, ohne dass der/die Trainer*in die Details erfahren müsse. Trainer*innen haben heutzutage ein sehr hohes Anforderungsprofil, gerade im komplexen Turnsport müssen viele technische, aber auch trainingswissenschaftliche Fähigkeiten mitgebracht werden.

Demnach ist es laut Voigt ratsam, dass die Sportpsycholog*innen als zusätzliche Ressource gesehen werden, die die Entwicklung der Athlet*innen mit unterstützen: "Natürlich können einfache Mentalübungen, wie Traumreisen oder Entspannungsübungen durch die Trainer*innen in das Training implementiert werden. Da macht man sicher nichts falsch, sondern findet sogar einen Einstieg. Sobald es aber ein individuelles Thema einer Sportlerin gibt, beziehungsweise die Techniken ganzheitlich in den Trainingsalltag eingebunden werden sollen, ist eine Zusammenarbeit  mit  einem Experten oder einer Expertin sehr zu empfehlen."


Rückwärtsblockaden, Twisties und Co.

Sportpsychologen sind keine Feuerlöscher

Mentales Training | Foto: DTB

Spätestens seit den Olympischen Spielen 2020 in Tokio hat die internationale Turnwelt von dem Phänomen der "Twisties" erfahren. Die mehrfache Olympiasiegerin Simone Biles aus den USA musste aufgrund dieser Problematik ihre Teilnahme an den Finals bis auf Balken und Barren absagen. Am Sprung verlor sie in der Qualifikation beim Einturnen das erste Mal die Orientierung und landete nur mit Glück noch auf den Füßen. In den sozialen Medien wurden Videos veröffentlicht in denen Biles im Nachgang bereits bei einer einfachen Schraube die Orientierung verlor. Auch in Deutschland ist das Thema "Rückwärtsblockade" durch Pauline Schäfer-Betz das erste Mal bekannt geworden. Die Balken-Weltmeisterin aus Deutschland turnt seit einigen Jahren bei Wettkämpfen am Boden keine Rückwärtskombinationen als Bahn, teilt auf ihren Social-Media-Kanälen aber immer wieder Trainingsvideos, in denen sie sich mit genau diesen Elementen befasst. Was steckt also hinter all dem? 

"Die Forschung in Sachen Twisties und Co. steht noch sehr am Anfang. Bislang ist noch nicht eindeutig geklärt, woher sie kommen, warum sie auftreten und wie präventiv gearbeitet werden kann. Was in dem Zusammenhang aber klar ist: Sportpsychologie ist kein Feuerlöscher für Krisensituationen", beschreibt die promovierte Expertin den Umgang mit Blockaden im Turnen. Oftmals werden Sportpsycholog*innen meist mit der Erwartungshaltung eingebunden, dass nach einem gemeinsamen Gespräch das Problem behoben wurde. Die Arbeit an bestehenden Blockaden erfordert Zeit und ein vertrauensvolles Verhältnis. Daher sei es sehr hilfreich, wenn die Sportler*innen bereits im Vorfeld mit sportpsychologischem Training vertraut sind und wissen, sich darauf einzulassen. Meist geschieht die Arbeit der Sportpsychologen dabei direkt in der Halle am Gerät oder beim Element. Auch hier seien die Techniken sehr individuell, weshalb es kein allgemeingültiges Vorgehen als Empfehlung gebe.


Ich sage, die mentale Gesundheit steht an erster Stelle. Daher ist es manchmal in Ordnung, die großen Wettbewerbe sogar auszusitzen, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. Es zeigt, wie stark du als Wettkämpfer und Person wirklich bist, anstatt sich einfach durchzukämpfen.

Zitat Simone Biles - bei den Olympischen Spielen 2021

Best-Practice Beispiele

Laura Voigt klärt mit Klischees auf

1. Überwinden von Ängsten durch "Mach einfach und denk nicht so viel nach."

Gerade im Turnsport gehört das Überwinden von Ängsten zum Trainingsalltag. Diese Angst ist dabei sogar sehr wichtig, denn sie beschützt uns nicht übermütig zu werden. Oftmals wird hier mit Überwindungstaktiken die Angst "wegdiskutiert", was meist das Gegenteil bewirkt. Stattdessen ist es wichtig die Angst zuzulassen, ihr Raum zu geben, sie zu beschreiben oder bei Kindern ihr beispielsweise einen Namen, Farben oder Formen zu geben. Es kann auch helfen die Angst zu Ende zu denken und die katastrophischen Gedanken genau zu hinterfragen: "Was ist das Schlimmste, das passieren kann?"

2. Mentaltraining vs. Sportpsychologisches Training: "Wir machen nach jedem Training schon eine Muskelentspannung." 

Der Begriff "Mentaltraining" ist im aktuellen Trainingsalltag meist gängiger als sportpsychologisches Training. Darunter werden meist Entspannungsübungen am Trainingsende verstanden.   Sportpsychologisches Training definiert jedoch das Gesamtkonzept. Bei einer externen Zusammenarbeit ist zudem wichtig zu wissen, dass "Mentaltrainer*in" kein geschützter Begriff ist, sondern über beispielsweise einen Wochenend-Kurs erworben werden kann. Ein/e sportpsychologische/r Experte oder Expertin hat einen Masterabschluss in Psychologie oder Sportwissenschaft und danach noch eine ca. einjährige Ausbildung gemacht. Dadurch kann eine bestimmte fachliche Qualifikation gewährleistet werden.

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Wie finde ich eine/n sportpsychologische/n Expert*in? 

Als Anlaufstelle zur Information über sportpsychologische Experten und Expertinnen für die Sportpraxis und alle Interessierten sowie zur Förderung der Zusammenarbeit von qualifizierten und erfahrenen sportpsychologischen Expertinnen und Experten mit dem Nachwuchsleistungs- und Spitzensport stellt die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland e.V. eine Online-Expertendatenbank auf seinem Portal zur Verfügung. Über diese Datenbank können alle Interessenten direkt Kontakt zu den sportpsychologischen Experten und Expertinnen aufnehmen.

Die Expert*innendatenbank für den Leistungssport wird durch den DOSB gefördert. 

Praxistipps für den Vereinsalltag als erster Einstieg in das Thema

Buchempfehlung von Laura Voigt

Mentales Training im Leistungssport:
in Übungsbuch für den Schüler- und Jugendbereich

Gebundene Ausgabe | Erschienen am 25. Mai 2011
Herausgeber: Neuer Sportverlag
Autor*innen: Kai Engbert, Anna Droste, Tanja Werts, Eva Zier
Inhalt: Mentale Stärke im Leistungssport ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Training und Erfahrung. Daher sollte wie auch im körperlichen Bereich bereits im Schüler- und Jugendalter mit dem Mentalen Training begonnen werden. Langfristig führt es zu mehr Selbstbewusstsein, stabileren Wettkampfleistungen und hilft besonders sogenannten Trainingsweltmeistern ihre Leistung dann abzurufen, wenn es zählt. Dieses Buch richtet sich an Trainer und Sportpsychologen, die mit Sportlern im Einzelcoaching oder in der Gruppe Mentales Training planen und durchführen möchten.

Zu jedem Themenbereich werden Übungen mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad vorgestellt, so dass sowohl Einsteiger als auch erfahrene Sportler verschiedenster Sportarten von diesen profitieren können. Die dazu passenden Arbeitsmaterialien werden in Form von Anleitungen, Arbeitsblättern und Handouts als Druckvorlage zum Download bereit gestellt. Dr. Kai Engbert ist ehemaliger Leistungssportler (Kanuslalom) und Diplompsychologe. Er arbeitet mit Sportlern aus verschiedenen Mannschafts- und Einzelsportarten zusammen. Unter anderem begleitete er die deutsche Snowboard-Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 2010 und etablierte ein sportpsychologisches Ausbildungskonzept im Deutschen Skiverband, Ski Alpin.

 

Mentales Training im Leistungssport – Teil 2:
Ein Praxisbuch für SportlerInnen, TrainerInnen & Eltern Broschiert

Gebundene Ausgabe | Erschienen am 15. September 2021
Herausgeber: Neuer Sportverlag
Autoren: Kai Engbert, Tom Kossak
Inhalt: Mentale Stärke bedeutet, seine Leistung auf den Punkt genau abzurufen. Das vorliegende Buch unterstützt SportlerInnen aller Altersbereiche, diese Fähigkeit zu entwickeln. Dabei lernen sie Techniken und Strategien, um mit sich selbst, ihren Gedanken und Emotionen sowie den Anforderungen des Wettkampfsports optimal umzugehen. Neben klassischen Themen des Mentalen Trainings, wie dem Aufbau von Selbstvertrauen, dem Vorstellungstraining und dem Wettkampfmanagement, werden auch neue Ideen der modernen Sportpsychologie, wie etwa die Arbeit an Achtsamkeit und Gelassenheit sowie die Begleitung verletzter SportlerInnen, integriert. In einem weiteren Kapitel für TrainerInnen finden sich Übungen und Impulse zu Themen wie Führungsstil, Kommunikation und Körpersprache. Auf der Basis des bewährten Konzepts aus Band 1 haben die Autoren hier ihr Praxiswissen aus dem Mannschafts- und Einzelsport für SportlerInnen, Eltern, (Mental-)TrainerInnen und SportpsychologInnen konkret und praxisnah zusammengefasst. Um eine Methodenvielfalt zu erhalten wurden sie durch Gastbeiträge namhafter ExpertInnen der Sportpsychologie, der Ernährungs- und Sportwissenschaften sowie der Medizin unterstützt. In zehn Kapiteln werden über 150 konkrete Übungen, Ideen und Methoden beschrieben, die mit zahlreichen Anleitungen, Arbeitsblättern und Handouts als Druckvorlagen ergänzt werden. Buch mit 268 Seiten plus 98 Übungsblätter als Download zum Ausdrucken.

Kartenspiel Psychosoziale Ressouren | Foto: DTB

DTB-Kartenspiel zur Stärkung der psychosozialen Ressourcen

Dieses Kartenspiel beschäftigt sich mit den Psychosozialen Ressourcen. Ziel des Kartenspiels ist es, die Psychosozialen Ressourcen in der Sportstunde zu stärken. Zwei Arten von Karten gibt es: Karten, bei welchen Aufgaben absolviert werden oder ein Austausch stattfinden soll.

Spielablauf: Alle Karten werden umgedreht in die Mitte gelegt. Die Teilnehmenden laufen oder machen eine bestimmte Übung durch den Raum. Gibt der/die Übungsleiter*in ein Signal, gehen alle Teilnehmenden zu zweit oder zu dritt zusammen und ziehen gemeinsam eine Karte. Nachdem sie die Karte gezogen habe, erledigen sie die Aufgabe als Gruppe oder gehen in den Austausch, während sie in Bewegung bleiben. Eine Alternative wäre, die Karten als Stationen zu verteilen und die Teilnehmenden die Stationen im Zirkel abarbeiten zu lassen.

Über folgenden Download kann das Kartenspiel individuell ausgedruckt werden.