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Sprossenwand - Magazin im DTB

Turn-Team Deutschland

Neuer Frauen-Cheftrainer im Gespräch 

15.02.2022 18:40

DTB-Präsident Hölzl und der neue Frauen-Cheftrainer Wiersma im Interview  

Gerben Wiersma und Alfons Hölzl | Bildquelle: DTB/PictureAllianc
Gerben Wiersma und Alfons Hölzl | Bildquelle: DTB/PictureAlliance

Der Deutsche Turner-Bund hat im Spitzensport die Weichen für den olympischen Zyklus gestellt. Der 44-jährige Niederländer Gerben Wiersma wird die Frauen des Turn-Team Deutschland betreuen und zu den Olympischen Spielen 2024 nach Paris führen. Gemeinsam mit DTB-Präsident Dr. Alfons Hölzl äußert er sich im Gespräch über die neue Herausforderung und die Hintergründe.  

Herzlich willkommen Gerben Wiersma im Deutschen Turner-Bund, wie groß ist die Vorfreude auf den neuen Job? 
Gerben Wiersma: Vielen Dank - ich freue mich in der Tat sehr, für den DTB als Cheftrainer für das Frauenturnen zu arbeiten. Wir haben eine Zusammenarbeit bis einschließlich der Olympischen Spiele in Paris 2024 vereinbart. Damit geht für mich auch ein Traum in Erfüllung, denn Deutschland ist eine Top 8 Turnnation mit viel Potenzial.  

Alfons Hölzl, warum hat es relativ lange gedauert, nach der Verabschiedung von Ulla Koch im Sommer, einen geeigneten Kandidaten / Kandidatin für das Amt des Teamchefs zu finden?
Dr. Alfons Hölzl: Zum einen hat sich der Trainermarkt nach den Olympischen Spielen in Tokio im zweiten Halbjahr nochmals bewegt. Zum anderen haben wir uns auch intern im Verband die Zeit genommen, um uns für den neuen olympischen Zyklus bestmöglich aufzustellen, dies gilt sowohl für die sportliche Entwicklung der Teams als auch mit Blick auf den im DTB eingeleiteten Kultur- und Strukturwandel „Leistung mit Respekt“. Für die Besetzung dieser zentralen Position für das Gerätturnen haben wir einen intensiven Auswahlprozess geführt, in den wir u.a. auch Heimtrainer*innen und Turnerinnen eingebunden haben. 

Gerben Wiersma, wie waren Sie in den Auswahlprozess eingebunden? 
Gerben Wiersma: In den vergangenen sechs Monaten war ich mehrmals in Frankfurt am Main und konnte in verschiedenen Runden mit verschiedenen Personen sprechen, darunter Turnerinnen und Turner, Funktionäre sowie Trainerinnen und Trainer. Meine Vorstellungen von Talentförderung und Spitzenturnen decken sich nahtlos mit den Ambitionen und Erwartungen des Deutschen Turner-Bundes. Ich habe große Bewunderung für den Prozess, den der Deutsche Turner-Bund im Vorfeld dieser endgültigen Entscheidung durchlaufen hat, einschließlich einer umfangreichen Hintergrundprüfung. 

Wie hat der DTB, wie haben Sie Gerben Wiersma kennen gelernt?  
Dr. Alfons Hölzl: Wir haben uns mehrfach mit Gerben Wiersma persönlich getroffen, um seine Trainer-Philosophie besser kennen zu lernen. Dabei haben wir stets sehr offen über seine Rolle im niederländischen Sport gesprochen. Darüber hinaus haben wir uns intensiv mit der Situation und den verschiedenen Prozessen, die im niederländischen Turnen aber auch im gesamten olympischen Sport angestoßen wurden, beschäftigt. Wir haben einen engen Austausch mit den niederländischen Kollegen des nationalen Turnverbandes (KNGU) und auch dem Olympischen Komitee unserer Nachbarn. Das niederländische Olympische Komitee und der niederländische Turnverband treiben beide intensiv einen umfangreichen Kulturprozess im holländischen Sport voran – und beide Stellen haben sich sehr positiv zu einem Engagement von Gerben Wiersma in Deutschland geäußert. Darüber hinaus stehen wir bei sämtlichen Einstellungen von internationalen Trainerinnen und Trainern im Austausch mit der Ethikkommission der FIG. Trainer*innen-Einstellungen sind wichtige Entscheidungen, die wir aus verschiedenen Perspektiven intensiv beleuchten. 

Wie verlief Ihre Karriere bisher, Gerben Wiersma? 
Gerben Wiersma: Meine Karriere begann vor mehr als 25 Jahren. Direkt nach den Olympischen Spielen in London 2012 wurde ich zum Bundestrainer ernannt und war sowohl für das Senioren- als auch für das Juniorenprogramm in den Niederlanden verantwortlich. Unser Hauptaugenmerk lag auf dem Aufbau eines soliden und nachhaltigen Spitzensportprogramms mit drei Schwerpunkten: die Teilnahme an den Olympischen Spielen als Team, die Entwicklung eines Talentprogramms neben den Senioren und nicht zuletzt die Schaffung einer Kultur, in der Turner*innen und Trainer*innen in einem professionellen und sicheren Umfeld zusammenarbeiten. Einer der Schlüsselfaktoren war der Aufbau eines multidisziplinären Expertenteams, das medizinisches Personal, Kraft- und Konditionstrainer, Ernährungsberater, Pädagogen, Choreographen, Leistungssportler und Sportpsychologen umfasst. In diesem Teamentwicklungsprozess verbesserte sich die Zusammenarbeit zwischen den Trainern, sowohl auf nationaler Ebene als auch in den Vereinen erheblich und wurde zu einem der Schlüsselfaktoren für unsere Leistungen insbesondere bei den Olympischen Spielen in Rio mit Platz 7 im Mannschaftsfinale und Sanne Wevers Gold am Balken. Das heißt aber nicht, dass alles auf Anhieb gut gelaufen ist.  
 
Was war passiert? 
Mutige Turnerinnen und Turner, von denen die meisten ihre Karriere vor mehr als 15 Jahren beendeten, traten an die Öffentlichkeit und erzählten ihre Geschichten, was den niederländischen Turnverband veranlasste, das Elitesportprogramm für eine kurze Zeit zu stoppen, um eine Untersuchung der Kultur im Turnen im Allgemeinen und aller Elitetrainer im Besonderen einzuleiten. 

Obwohl ich im April 2021 von allen Vorwürfen freigesprochen wurde, kam der Berufungsausschuss im Oktober zu dem Schluss, dass einige Verhaltensweisen aus den Jahren 2010 und 2011 dazu beigetragen haben, dass sich Turnerinnen und Turner in einigen Fällen aus der Gruppe ausgegrenzt, ignoriert oder missverstanden fühlten. Andererseits ergab die Untersuchung, dass mein Verhalten sowohl in Bezug auf den Umfang als auch auf die Schwere nur als mäßig zu bezeichnen ist, dass vorsätzliches Verhalten nicht zu erkennen ist und dass mir nur in sehr begrenztem Maße ein Vorwurf gemacht werden kann. Auch hat der Berufungsausschuss festgestellt, dass ich selbstkritisch und transparent gewesen bin. Sie berücksichtigten auch, dass ich mich für schlechte Erfahrungen entschuldigt habe. Schließlich hat das Komitee auch hervorgehoben und festgestellt, dass ich einer der Initiatoren des kulturellen Wandels war, der ab 2012 stattfand, dass viele Turnerinnen und Turner ihre Freude am Turnen im nationalen Zentrum in Heerenveen wiederentdeckt haben und dass es nach 2011 keine Beschwerden mehr gab. 

Alfons Hölzl, Gerben Wiersma ist laut Berufungsausschusses des Instituts für Rechtsprechung ISR des grenzüberschreitenden Verhaltens schuldig gesprochen worden. Wie ist dies mit dem Struktur- und Kulturwandel im DTB vereinbar? 
Dr. Alfons Hölzl: Wir befinden uns mitten im Prozess des Kultur- und Strukturwandels und werden diesen Weg konsequent fortsetzen. Gerben Wiersma steht mit seiner Arbeitsweise und seinem Kommunikationsstil eindeutig für Wandel und auch für Leistung mit Respekt. Er wird diesen Weg mit uns als Verband gehen und weiter vorantreiben. Dass er dies kann, kann hat er in den vergangenen zehn Jahren in den Niederlanden bereits bewiesen. Uns ist bewusst, dass er in seiner Zeit vor über zehn Jahren, bevor er Cheftrainer wurde, gegen die Disziplinarordnung verstoßen hat. Sein Umgang damit und seine Reflektion und vor allem die Art und Weise wie seine Philosophie als Cheftrainer zum Prozess “Leistung mit Respekt” passt, haben uns darin bestärkt, mit ihm zusammenzuarbeiten. Gerben Wiersma möchte aktiv Teil des Kulturwandels im deutschen Turnen sein und seine Erfahrungen und seine Expertise einbringen.

Welche sportlichen Erwartungen haben Sie an Gerben Wiersma?  
Dr. Alfons Hölzl: Wir möchten mit unseren Turnerinnen zu den Top acht Teams weltweit gehören. Wir wissen, dass dieses Ziel angesichts der Konkurrenz sehr ehrgeizig ist und wir bei den Spielen in Tokio aber auch bei der WM in Stuttgart knapp dahinter lagen – wir wollen es aber versuchen. Im Einzel wollen wir zudem mit unseren starken Gerätspezialistinnen weiterhin um die ein oder andere Medaille mitturnen. Uns ist bewusst, dass dies nur möglich ist, wenn alles zusammenpasst.   

Gerben Wiersma, welches werden Ihre ersten Aufgaben in Ihrer neuen Position sein? 
Gerben Wiersma: Ich bin dem Deutschen Turner-Bund dankbar für die Möglichkeit, auf den Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren in den Niederlanden gesammelt habe, aufbauen zu können. Ich ergreife die Chance, diese in einem neuen Eliteumfeld zu nutzen. In den kommenden Monaten werde ich mich darauf konzentrieren, alle Beteiligten kennenzulernen, mich in die Turnprogramme zu vertiefen, einen gemeinsamen Aktionsplan zu erstellen und natürlich die Sprache zu lernen. Ich freue mich auf meine neue Aufgabe und auf mein internationales Comeback bei den Europameisterschaften in München. Mein Fußabdruck wäre ein positives Leistungsklima, in dem die beteiligten Turnerinnen und Turner, Trainerinnen und Trainer sowie Expertinnen und Experten das Beste aus sich herausholen können mit respektvoller Teamarbeit als Leitperspektive. Ich freue mich sehr auf unsere gemeinsame Herausforderung und kann es kaum erwarten, loszulegen!