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Team Gerätturnen

"Eigentlich mag ich den Schwebebalken gar nicht."

04.07.2019 13:09

Pauline Schäfer im Porträt

Morgan Hurd, Pauline Schäfer und Tabea Alt bei der WM 2017 in Montreal | Bildquelle: picture alliance
Morgan Hurd, Pauline Schäfer und Tabea Alt bei der WM 2017 in Montreal | Bildquelle: picture alliance

Eigentlich, sagt Pauline Schäfer, mag ich den Schwebebalken gar nicht. Und doch ist es ihr Gerät. Geschmeidig wie eine Katze bewegt sich die 24-Jährige auf diesem nur zehn Zentimeter schmalen Grat, besitzt ein ganz besonderes Gefühl dafür, die richtige Balance darauf zu halten. Das hat die gebürtige Saarländerin sehr weit gebracht, bis ganz nach oben auf der internationalen Bühne. Bei den Weltmeisterschaften 2017 in Montréal gewann sie Goldmedaille und Titel. Schon zwei Jahre zuvor hatte es in Glasgow zu Bronze gereicht. Zwei herausragende Erfolge, die nicht nur Schäfer selbst eine Menge Selbstbewusstsein verliehen, sondern auch den deutschen Gerätkünstlerinnen insgesamt Mut machten, dass sie diesen gerne als Zitterpartie angesehenen Teil des turnerischen Vierkampfs genauso gut in den Griff bekommen können wie andere Herausforderungen in ihrem Sport.

Kampf gegen die Rückwärtsblockade

Dabei kämpft Schäfer seit Jahren mit einem Trauma, das ihre Leistungsentwicklung hemmt. Seitdem sie einmal, noch vor ihrem Wechsel als 15-Jährige nach Chemnitz, bei einer verunglückten Doppelschraube am Boden auf dem Kopf landete, verspürt das Bewegungstalent bei Rückwärtsbewegungen eine Blockade. So gut wie möglich versucht Schäfer den Blindflug nach hinten zu umgehen, doch aufgrund der Wertungsvorschriften ist das nicht immer möglich. Am Balken etwa ist eine akrobatische Reihe gefordert, die mit Rückwärtsüberschlägen noch am einfachsten zu bewältigen ist. Jedes Training sei deshalb, wie sie sagt, „ein Kampf“, bei dem sich die Turnerin selbst immer wieder überreden muss, die Rückwärtselemente zu absolvieren. „Ich habe Methoden entwickelt, mich dazu zu zwingen“, sagt Schäfer. Aber sie würde gerne wissen, wie weit sie ohne dieses Problem gekommen wäre.

Bei der WM in Kanada hatte sie sich dennoch einen ganz großen Traum erfüllen können. Im Finale der besten Acht des Vorkampfs als Erste ans Gerät gegangen, hatte sie eine sehr gute Übung erwischt. Danach musste sie lange warten, bis feststand, dass dies zur Krönung als neue Balken-Königin reichen würde. Neben ihr auf dem Podest stand damals auf der dritten Stufe die Ludwigsburgerin Tabea Alt. „Es war schön, das gemeinsam mit ihr zu erleben“, sagt die Gewinnerin.

Neuanfang in Chemnitz

Der Weg dorthin war lang und beschwerlich. Wie ihre drei älteren Brüder, und später die jüngere Schwester Helene, hatte auch Pauline beim TV Pflugscheid-Hixberg mit dem Kinderturnen angefangen. „Das war in einer kleinen Halle, in der man jedes Mal die Geräte aufbauen musste.“ Schnell wurde klar, dass größeres Potenzial in ihr steckte. So wechselte sie erst nach Dillingen und später an den Stützpunkt nach Saarbrücken. In der Trainingsgruppe stand die Schülerin irgendwann alleine da. Da unterbrach sie ihre aufstrebende Karriere und versuchte sich im Stabhochsprung. „Aber das war mir zu langweilig“, der Weg zurück zum Turnen bald wieder gefunden.

Nach den Deutschen Jugendmeisterschaften 2012 stellte sie Bundestrainerin Ulla Koch vor eine Entscheidung. Sollte Schäfer nicht ihren Trainingsort wechseln, würde sie schwer weiter vorankommen. So zog die geborene Saarbrückerin ins Internat nach Chemnitz um. „Eine komplette Umstellung“, wie sie betont, die sie nach nur einem Tag bereits satt hatte. Doch die Mutter riet, es trotzdem zu versuchen. „Sie hat gesagt, ich würde es sonst bereuen.“

So blieb Schäfer, 600 Kilometer von der Heimat entfernt, in Sachsen. Etwas leichter wurde es für sie, als nur ein Jahr später Schwester Helene folgte. Die beiden motivierten sich gegenseitig und träumten davon, vielleicht sogar gemeinsam die Olympischen Spiele 2020 in Tokio zu bestreiten.

Mit dem Schäfer-Salto zur Balken-Queen

Für Pauline ging es damals unter ihrer neuen Trainerin Gabriele Frehse steil bergauf. Noch im Jahr ihres Wechsels, 2013, durfte sie erstmals zu einer WM, nach Antwerpen, mitfahren und belegte bei der Europameisterschaft ein Jahr später in Sofia mit dem DTB-Team den fünften Platz. Im Herbst präsentierte sie dann bei der WM in China erstmals das Element, das seitdem im Code de Pointage, den internationalen Wertungsvorschriften, unter ihrem Namen eingetragen ist: einen Seitwärts-Salto mit halber Drehung auf dem Schwebebalken.

Die Idee zu der als E-Teil eingestuften Schwierigkeit hatten ihre Kolleginnen von einem Trainingslager in Kanada aus importiert. Während alle anderen sich vergeblich daran versuchten, merkte Schäfer schnell, dass es „nicht verkehrt“ für sie war. Nach eineinhalb Jahren war es wettkampfsicher. Es bedeutete den ersten Schritt, mit dem sie auch außerhalb der Szene sehr viel Aufmerksamkeit erregte.

Der zweite war ein Jahr später die Bronzemedaille bei der WM in Schottland. Nach einer ersten Finalteilnahme bei der EM in Montpellier zuvor, die sie auf dem siebten Platz abschloss, hatte die Balkenspezialistin selbst trotzdem nicht daran gedacht, dass sie so weit nach vorne kommen könnte. Zumal sie aus Sicherheitsgründen auf den zuvor wackligen Schäfer-Salto verzichtete. Doch ein Teil der Konkurrenz patzte, und sie wurde Dritte. „Das war wie ein Weckruf für mich“, sagt Schäfer. Plötzlich wurde ihr klar, dass es für sie durchaus möglich war, ganz vorne in der Spitze mitzumischen. Eine Erfahrung, von der sie bei ihrem Titelgewinn 2017 profitierte.

Die neue Balken-Queen wurde in der eigenen Heimat gefeiert. Schäfer wurde unter anderem ins ZDF-Sport-Studio und zu zahlreichen Ehrungen und Talkshows geladen. Eine Weile trat sie dafür mit dem Training kürzer. Dann kehrte die ehrgeizige Athletin in den Übungsalltag zurück. „Es war nicht einfach, sich wieder zu motivieren“, sagt sie. Aber die Routine half dabei.

Ihren Titel konnte die Olympiateilnehmerin von Rio 2016 nicht verteidigen. Bei der WM-Qualifikation in Stuttgart zog sie sich eine Fußverletzung zu, die ihre Reise nach Doha verhinderte. Schon zuvor hatte sich einiges im Training verändert. Nach ihrem sechsten Platz im Finale bei der EM in Glasgow trennten sich die Wege der Turnerin und ihrer Betreuerin Frehse. Vorübergehend übte Schäfer nach den Plänen von Koch und mit Schwester Helene an der Seite bei verschiedenen Trainern und unter anderem an Boden und Sprung bei den Männern mit. Mittlerweile bildet sie mit Kay-Uwe Temme ein erfolgreiches Gespann.

Die Gerätekünstlerin, die nebenbei an einer Abendschule ihr Abitur machte, konnte sich durch die Arbeit mit dem neuen Coach weiter entwickeln, wie die beiden erfolgreichen Qualifikationswettkämpfe für Olympia in Dortmund und München eindrucksvoll zeigten. Man darf gespannt sein, ob die mehrmalige Deutsche Meisterin, die außerdem Stärken an Sprung und Boden hat, bei den Spielen in Tokio ihre Erfolgsgeschichte weiter fortschreiben kann. Und das obwohl sie den Balken ja eigentlich gar nicht mag.