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Team Gerätturnen

Ich war nie ein Sternchen

16.09.2019 19:50

Elisabeth Seitz im Portrait.

Elisabeth Seitz | Bildquelle: Seitz
Elisabeth Seitz | Bildquelle: Seitz

Irgendwann hat Bundestrainerin Ulla Koch Elisabeth Seitz einmal als „Wettkampfsau“ bezeichnet. Vielleicht hört die 27-Jährige das nicht gern. Aber es trifft ziemlich genau, was sie ausmacht. Allen Rückschlägen, Verletzungen und Widerständen zum Trotz beeindruckt die Powerfrau des Deutschen Turner-Bundes (DTB) seit Jahren mit starken Leistungen, steht manchmal selbst nach einem Auftritt ratlos da, weil sie sich nicht erklären kann, warum ihre Übungen doch wieder klappten. Dabei strahlt sie stets gute Laune und eine enorme Energie aus.

Einen Tag vor mittlerweile über acht Jahren hat Seitz selbst mal als ganz typisch für ihre Karriere beschrieben. Es war während der Heim-Europameisterschaften von Berlin, und die damals noch in Mannheim trainierende Sportlerin stand am Nachmittag im Mehrkampffinale. Das Vormittagstraining sollte ein leichtes sein. Ein paar Bewegungen auf dem Schwebebalken gehörten zum Programm. Doch ein Rückwärtsschritt ging ins Leere, und als Seitz versuchte, ihren daraus resultierenden Sturz abzufangen, kugelte sie sich dabei den kleinen Finger aus. Im 90-Grad-Winkel habe er nach hinten abgestanden, ein Anblick, den keiner gerne sah. „Wie in einem schlechten Comic-Film“, sagt Seitz heute amüsiert. Doch damals war ihr ganz anders zumute gewesen.

Wenige Stunden später marschierte sie ein in die Wettkampfhalle. Einen ersten Test am Stufenbarren hatte sie bestanden, und als es losging mit der Entscheidung im Vierkampf, turnte sie, als sei nie etwas gewesen. Am Ende sprang eine Silbermedaille heraus und damit das erste Edelmetall, das sie auf internationaler Ebene gewann.

Mittlerweile ist Seitz mit 23 Titeln deutsche Rekordmeisterin und hat sich 2018 nach einem dritten Platz am Stufenbarren bei der EM 2017 in Cluj noch einen ganz großen Traum erfüllt. Bei der Weltmeisterschaft in Doha sicherte sie sich ebenfalls an den beiden Holmen bronzenes Edelmetall. „Ich dachte eigentlich schon vorher, ich hätte alles erreicht“, sagt die in Heidelberg geborene Wahl-Stuttgarterin. Doch natürlich sei ein Podestplatz bei einer WM oder Olympischen Spielen noch in ihrem Hinterkopf gewesen. Jetzt, da das „Sahnehäubchen“ die Karriere krönt, sei auch Druck abgefallen. „Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe.“

Schon 2016 bei den Spielen in Rio war sie in ihrem zweiten olympischen Gerätefinale nach London ganz nah an einem Podestplatz gewesen. Doch mit einem denkbar knappen Rückstand musste sie diesen dritten Rang der Chemnitzerin Sophie Scheder überlassen. Nachdem ob der Enttäuschung erst einmal Tränen flossen, hat die Geschlagene damals schnell eingesehen, dass sie dennoch stolz auf sich und ihr Abschneiden sein konnte.

Doch Seitz ist eben nicht nur Barrenspezialistin, auch wenn sie an diesem schwungvollen Gerät schon früh ein eigenes Element, einen Schaposchnikowa mit ganzer Längsachsendrehung, kreierte, mit dem sie in den internationalen Wertungsvorschriften, dem Code de Pointage, verewigt ist. „Ich habe mich immer als Mehrkämpferin gesehen“, sagt sie. Sieben nationale Titel als beste Allrounderin unterstreichen das neben der EM-Medaille ebenso wie ihr Gesamtweltcupsieg 2018 oder der zehnte Platz bei den Olympischen Spielen von London und der neunte bei der WM 2017 in Montréal.

Dabei, sagt die Sportlerin selbst, sei sie gar nicht das große Talent gewesen. Mit fünf Jahren hatte sie Ballett getanzt und Tennis gespielt, bis zwei Leistenbrüche samt Operationen sie nach etwas Neuem suchen ließen. „Im Wohnzimmer habe ich immer herumgeturnt.“ Doch als sie sich mit bereits sechseinhalb Jahren im Mannheimer Leistungszentrum vorstellte, „ist mein Körper nicht auf so positive Resonanz gestoßen“. In einer Trainingsgruppe war allerdings noch Platz, und so habe sie bleiben dürfen.

„Ich war nie ein Sternchen“, sagt Seitz rückblickend. Doch als die heutige Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk 2007 an den Stützpunkt kam, ging es steil bergauf. Schon ein Jahr später, bei der Junioren-Europameisterschaft in Clermont-Ferrand durfte sie sich im Stufenbarrenfinale zeigen, 2009 war sie bereits bei der Weltmeisterschaft der Aktiven in London mit dabei.

Nach ihrem Olympiadebüt an gleicher Stätte wollte Seitz noch mehr. Doch immer wieder hemmten sie Fußprobleme, und mancher habe sie in dem Zeitraum „abgeschrieben“. Derartige Unkenrufe pushen die Ehrgeizige umso mehr. Nach einer „holprigen Zeit“ siedelte sie Anfang 2015 nach Stuttgart um, wo sie „Turnen noch einmal aus ganz anderer Sicht genießt“. Als reife Athletin, die im Training mehr selbst bestimmen kann.

Trotz mehrerer Operationen an ihrer Schwachstelle, den Füßen, habe sie nie das Gefühl gehabt, „dass es das schon war“. Die Zwangspausen habe sie eher zum Durchschnaufen genutzt, um danach wieder aufzudrehen.

Neben dem Leistungssport absolviert Seitz mittlerweile ein Lehramtsstudium in Sport und Englisch an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. „Es ist schön, nicht mehr nur Sportlerin, sondern auch Studentin zu sein“ und so viele neue Leute kennen zu lernen. „Ich habe gefunden, was ich will“, sagt sie. Und es gebe ja „noch ein Leben nach dem Sport“. Auch wenn die Reise in diesem bis zu den Olympischen Spielen 2021 in Tokio weitergeht.

Einen besonderen Glücksbringer hat Seitz in ihrer Karriere im Übrigen nie gebraucht. Dafür war ihr jüngerer Bruder Gabriel da, „mein größter Fan“, der sie als kleiner Junge oft schon in der Mixed Zone herzte. Der Teenager hat mittlerweile auch im Turnen seinen Lieblingssport gefunden und wohnt im Internat in der gleichen Stadt. Der Älteste der drei Geschwister, Johannes, promoviert derweil in Pharmazie. „Ihm macht das Lernen Spaß“, was sie selbst erst wieder lernen müsse. Doch Druck egal welcher Art, das hat Elisabeth Seitz hinlänglich bewiesen, kann sie bestens standhalten.