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Turnhalle der Zentralturnanstalt von Berlin | Bildquelle: Michael Krüger

 

Turnen zur Zeit der Reichsgründung und in der Kaiserzeit

Die bürgerliche Turnbewegung und die organisierten Turnvereine in Deutschland entwickelten sich in der Kaiserzeit von 1870/71 bis 1918 zu einem Hort des kaisertreuen Nationalismus in Deutschland, auch wenn der Kaiser nicht viel von den patriotischen, kleinbürgerlichen Turnern wissen wollte. Die Turner begannen, ihre freiheitlichen und demokratischen Anfänge in der 1848er-Revolution allmählich zu verdrängen.

Von Michael Krüger

Versammlung der Turner auf dem dritten Deutschen Turnfest 1863 in Leipzig.

Seit der Revolution von 1848/49 klebte an den Turnern der Ruch des Aufrührerischen und des Umsturzes. Die braven, kleinbürgerlichen Turner bemühten sich nach Kräften, diesen Eindruck des Chaotischen und Revolutionären zu zerstreuen. Sie passten sich den herrschenden Verhältnissen an, und diese waren von patriotischem Geist durchdrungen. Die bürgerliche Turnbewegung und die faktisch seit dem Turnfest in Coburg 1860 in einem Dachverband, der Deutschen Turnerschaft (DT), organisierten Turnvereine in Deutschland entwickelten sich in der Kaiserzeit von 1870/71 bis 1918 zu einem Hort des kaisertreuen Nationalismus in Deutschland. Der deutsche Kaiser wollte aber nicht viel von den kleinbürgerlichen Turnern wissen. Er hat nie ein deutsches Turnfest besucht.Verantwortung, für ganzheitliche Bildung und soziales Miteinander einsetzen.


Gleichwohl lebten einige Ideale der 1848er Zeit in den wieder aufgeblühten Turnvereinen in den 1860er Jahren fort. Man kann sogar sagen, dass die Haltung des Esslinger Turners Theodor Georgiis, des ersten gewählten Sprechers der deutschen Turnvereine, die er in seinem Bericht über den Turntag in Hanau 1868 formulierte, sich bis in die Gegenwart als Grundlage des politischen Selbstverständnisses der Vereine und Verbände von Turnen und Sport in Deutschland erwiesen:

"Die Turnerei hat die Aufgabe“, schrieb er, "nach Körper und Geist natürliche und kräftige Menschen zu bilden; hierbei ist die Teilnahme an der Politik nicht ausgeschlossen, sie wird sich im Gegenteil mit starkem Maß von selbst ergeben, allein das Turnen ist, wie schon gesagt, Selbstzweck, hat seinen eigenen Schwerpunkt und darf deswegen sich nie in den Dienst einer anderen Macht begeben." (in Georgii, 1885)

Die Idee, dass Turnen und Sport um ihrer selbst willen betrieben werden, in erster Linie der ganzheitlichen Bildung und Erziehung des Menschen dienen und deshalb auch unabhängig vom Staat in Form von Vereinen zu organisieren sind, geht auf die freiheitliche und liberale Turnbewegung des Vormärz zurück. Sie gilt bis heute. Von dieser Grundlage aus können sich Turner und Sportler für Freiheit und Eigenverantwortung, für Bürgerrechte und bürgerschaftliche Verantwortung, für ganzheitliche Bildung und soziales Miteinander einsetzen.

In den 1860er Jahren erreichte die Turnbewegung, wie Dieter Düding in seiner Studie über den "gesellschaftlich organisierten Nationalismus“ formulierte, in ihrer "dritten Entfaltungsperiode“ eine "neue Qualitäts- bzw. Entwicklungsstufe“ (Düding, 1984, S. 313).

Der Zusammenhang mit dem studentischen Milieu ging zunehmend verloren. Handwerker und Facharbeiter wurden zur zentralen Trägerschicht der Turnbewegung. Nationale Rituale spielten in den Turnvereinen eine wichtige Rolle, ebenso das praktische Turnen selbst, sei es an Geräten, bei Turnspielen oder auch das "volkstümliche Turnen, also die grundlegenden Formen und Inhalte von Leibesübungen wie Laufen, Springen und Werfen sowie die Freiübungen, die auch in großen Gruppen praktiziert und zelebriert wurden.

Folgende charakteristische Merkmale lassen sich auch für die Turnbewegung in der Reichsgründungsära, also die Zeit zwischen der Revolution von 1848/49 und Reichsgründung von 1870/71 sowie darüber hinaus im Deutschen Kaiserreich bis Ersten Weltkrieg erkennen: Endlich gelang es ab 1860, eine nationale Turnorganisation auf der Grundlage der zahlreichen Turnvereinsneugründungen ab 1859 zu schaffen; überall in Deutschland entstanden wieder Turnvereine und wurden Turnfeste veranstaltet; immer noch spielten die alten nationalen Rituale eine große Rolle, und immer noch wurde in den Turnzeitschriften über die richtige nationale Ideologie der Turner gestritten. Neu war aber, dass neben den Turnvereinen das Schulturnen flächendeckend in Deutschland eingeführt wurde - ein Prozess, der in Ansätzen schon im Vormärz eingesetzt hatte, aber erst in der Reichsgründungszeit eine konsequente Fortsetzung und Entfaltung erfuhr.

Der Historiker Dieter Langewiesche spricht in seinen Arbeiten zum Nationalismus in Deutschland von einem "Funktionswandel des Nationalismus", weg von einer vor der Nationalstaatsgründung demokratisch-egalitären und progressiven Idee zu einem konservativen Reichsnationalismus (Langewiesche, 1989). Damit verbunden war eine "Popularisierung des Nationalismus“, die sich nach Langewiesche in drei Ebenen unterscheiden ließ: erstens die wirtschaftliche Ebene mit der Herausbildung eines nationalen Wirtschaftsraumes durch verbesserte Verkehrs-und Kommunikationsverbindungen (z.B. Eisenbahn) und Zoll- und Handelsabkommen, beginnend mit der Gründung des deutschen Zollvereins 1834. Zweitens die politische Ebene, auf der die "Nation“ als neue, fortschrittliche Ordnungsvorstellung sich praktisch in allen politischen Lagern durchsetzen konnte; und drittens die sozial-kulturelle Ebene der Nationsbildung. Damit ist die Nationalisierung von Lebenswelten und Lebenserfahrungen gemeint, die sich in den verschiedensten Bereichen vollzog, im Alltag, in den Schulen, in Kunst, Musik, Literatur, durch Reisen oder im Vereinsleben. Die Nationalisierung war deshalb mit einer "Entlokalisierung von Lebenswelten und Lebenserfahrungen“ verbunden, indem sie für breite Schichten der Bevölkerung Möglichkeiten schuf, über lokale und regionale Grenzen hinaus Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Nationsbildung auf sozial-kultureller Ebene bedeutete, dass sich andere Beziehungsformen zwischen den Menschen, eine neue "Verflechtungsordnung“, wie sich Norbert Elias (1976) ausdrückte, herausbildete, die einerseits Spielräume erweiterte, andererseits aber auch neue, nationale Grenzen zog.

Auf dieser Ebene der sozial-kulturellen Nationsbildung ist auch der Prozess der Entstehung und Entwicklung einer spezifisch deutschen, nationalen Körper- und Bewegungskultur mit dem Namen Turnen, organisiert in den Turnvereinen, aber nun nationalisiert und entlokalisiert auch in Turnverbänden in den einzelnen Ländern und Regionen, in der Deutschen Turnerschaft und in den Schulen anzusiedeln. Die Geschichte des Turnens seit den späten 1850er bis in die 1870er Jahre und dann in der Kaiserzeit kennzeichnet die Entwicklung eines an Körper und Bewegung ansetzenden Kommunikationssystems, einer gemeinsamen Sprache des Körpers und der Bewegung, die dem nationalen Wir-Gefühl der Deutschen sowohl körperlich und emotional Ausdruck verleihen konnte als auch zu seiner Pflege und Förderung beitrug. Der Begriff Turnen steht dafür, dass im 19. Jahrhundert und speziell in der Zeit der Reichsgründung, Körper- und Geistesgeschichte eine spezifische Verbindung eingegangen sind.

Turnen bezeichnete eine spezifische Form des Umgangs mit dem Körper und eine nationale Kultur der Haltung und Bewegung. Die Turnvereine und die Deutsche Turnerschaft waren die einzigen Organisationen in Deutschland, die Körper und Bewegung zum Vereins- bzw. Verbandszweck erhoben hatten. Über die Förderung von turnerischen Leibesübungen hinaus sollten weitergehende gesellschaftliche und national-erzieherische Aufgaben erfüllt werden. Mit dem Schulturnen wurde von Staats wegen die körperliche Erziehung institutionalisiert und nationalisiert. Staatliches Schulturnen und bürgerschaftlich organisiertes Vereinsturnen waren aufeinander bezogen und haben ihren Beitrag zur sozial-kulturellen Integration bzw. zur Popularisierung des Nationalismus in Deutschland über Leibesübungen und körperliche Erziehung geleistet. In wenigen Jahren wurden die grundlegenden Strukturen dieser spezifischen Körper- und Bewegungskultur in Deutschland geschaffen, die im Kaiserreich stabil blieben und bis in die Gegenwart fortwirken. Seit dieser Zeit sind organisierte Leibesübungen in Deutschland im Wesentlichen an zwei organisatorisch-institutionelle Orte gebunden: die Schule und den Verein (Krüger & Wittmann, 2022).

Freiübungen nach Jäger | Bildquelle: Michael Krüger

Freiübungen nach Otto Heinrich Jaeger (1828-1912), Vorstand der Turnlehrerbildungsanstalt in Stuttgart.

Jeder männliche Deutsche, der im ersten Drittel des 19. Jahrhundert geboren wurde, kam im Laufe seines Lebens in irgendeiner Form mit dem Turnen und turnerischen Bewegungen in Kontakt - in der Schule, in der das Turnen ab der Jahrhundertmitte als reguläres Schulfach eingeführt wurde, beim Militär, bei dem das Turnen zum festen Bestandteil der militärischen Ausbildung gehörte, oder in den Turnvereinen, von denen es um 1900 über 6.500 mit beinahe 650.000 (männlichen) Mitgliedern gab. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs waren in Deutschland nach Angaben von Edmund Neuendorff rund 1,5 Millionen Menschen in Turnvereinen und rund 800.000 in Sportvereinen organisiert. Turnerisches Bewegungsleben prägte die Körper- und Bewegungserfahrungen breiter Massen der Bevölkerung im kaiserlichen Deutschland. Turnen war die nationale Leibesübung der Deutschen.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann dann der Siegeszug der Frauen in der Turn- und Sportbewegung. Heute sind fast drei Viertel aller Mitglieder in den Turnvereinen des Deutschen Turner-Bunds Mädchen und Frauen. Sie turnen allerdings anders als die Männer im 19. Jahrhundert.

Düding, Dieter (1984). Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847). München: Oldenbourg.

Elias, Norbert (1976). Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt: Suhrkamp.

Georgii, Theodor (1885). Aufsätze und Gedichte. Eine Sammlung. Eingeleitet von Justus Carl Lion. Hof.

Krüger, Michael (1996). Körperkultur und Nationsbildung. Schorndorf: Hofmann.

Krüger, M. & Wittmann, F. (2022). Turnen und Sport im Kaiserreich: Aufbruch in die Moderne? STADION, 46 (2), 224-258. doi: 10.5771/0172-4029-2022-2-224.

Langewiesche, Dieter (1989). „Nation“ und „Nationalstaat“. Zum Funktionswandel politisch-gesellschaftlicher Leitideen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. In F.W. Busch (Hrsg.). Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung in beiden deutschen Staaten. München: Oldenbourg (S. 173-182).

Freiübungen Turnfest Leipzig 1913 | Bildquelle: Michael Krüger
Freiübungen beim Deutschen Turnfest in Leipzig 1913.