Übersicht der allgemeinen Situation
zur psychischen und physischen Gewalt an Athlet*innen
Der Forschungsstand zum Kinderschutz und zu sexualisierter Gewalt im Sport war in Deutschland lange Zeit defizitär. Durch einen multidisziplinären Zugang von Sportsoziologie und Geschlechterforschung (Dt. Sporthochschule Köln) sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Universitätsklinikum Ulm) wurden in dem Verbundprojekt Erkenntnisse zu Entstehungsbedingungen, Prävalenz und Formen sexualisierter Gewalt sowie deren Prävention im Sport generiert. Hierauf aufbauend wurden in enger Kooperation mit dem organisierten Sport (Deutsche Sportjugend) Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen Typen von Sportorganisationen formuliert. Neben diesen transfer- bzw. praxisorientierten Veröffentlichungen entstanden aus dem Projekt zahlreiche nationale und internationale Fachpublikationen
Veröffentlicht wurde die Safe Sport Studie mit dem Schwerpunkt auf sexualisierte Gewalt durch Prof. Bettina Rulofs und Kolleg*innen (Rulofs et al., 2017).
Das Video basiert auf einer Auswertung von Dr. Jeannine Ohlert (DSHS) der Daten der Safe Sport Studie. Die Forschung ist im Bereich Psychische Gewalt im Leistungssport in Deutschland noch nicht weit fortgeschritten. Weitere Forschungsergebnisse und fundierte wissenschaftliche Studien des Feldes sind herzlich willkommen und werden in den Prozess im DTB aktiv einbezogen.
Die internationale Situation
Ab 2015 wurden erste Missbrauchsvorwürfe gegen Larry Nassar, den Arzt, des US-amerikanischen Turnverbandes USA Gymnastics, öffentlich. Im September 2016 veröffentlichte der Indianapolis Star, dass Rachael Denhollander und eine andere ehemalige Turnerin Nassar wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt hatten. Erst einige Monate nach Bekanntwerden der Vorwürfe beendete USA Gymnastics jedwede Zusammenarbeit mit Nassar. Nassar arbeitete jahrzehntelang als Arzt des US-amerikanischen Turnverbands USA Gymnastics, vier Mal gehörte er zum Olympiateam der USA. In dieser Zeit misshandelte er über 250 Mädchen und Frauen, darunter auch einige Olympiasiegerinnen. Am 24. Januar 2018 wurde Nassar im Missbrauchsprozess vor dem 30th Judicial Circuit Court in Michigan zu 40 bis 175 Jahren Haft wegen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt.
Die Veröffentlichung der Dokumentation "Athlete A" über den Missbrauchsskandal um den US-amerikanischen Teamarzt Larry Nassar im Juni 2020 war Auslöser für eine weltweit öffentliche Debatte. Die weltweite öffentliche Diskussion wurde im Sommer 2020 unter dem #gymnastalliance und Erweiterung der Debatte über die Trainingskultur im Turnsport verstärkt. Diese wurde initiiert durch die Britin und Vizeweltmeisterin am Barren Becky Downie mit einem Tweet, in dem sie eine "Kultur, die nicht die Gesundheit und das Wohlbefinden des Athleten an die erste Stelle setzt", verurteilt.
Nationale Situation
Öffentliches Hearing der Bundesregierung
Die unabhängige Kommission der Bundesregierung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat im Rahmen des Schwerpunktes Sport am 13. Oktober 2020 ein öffentliches Hearing durchgeführt. Betroffene und weitere Expertinnen und Experten aus dem Sport, der Politik und der Wissenschaft sprachen über ihre Erfahrungen und die Aufarbeitung sexueller Gewalt im Sport.
"Sport steht für Werte wie Integrität, Fairplay, Toleranz und Zusammenhalt. Aber der Wettkampf und der Wille zu gewinnen, tragen die Gefahr der Manipulation und des Machtmissbrauchs in sich. Es ist ausdrückliches Ziel des BMI, dass der Spitzensport in allen Bereichen und in allen Sportarten regelkonform und gewaltfrei ausgeübt wird.
Das BMI knüpft deshalb seine finanzielle Förderung von Spitzensportverbänden und Olympiastützpunkten an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zur Wahrung von Integrität und Gewaltfreiheit des Sports. Dies gilt bereits jetzt für den Bereich Prävention und Bekämpfung sexualisierter Gewalt und den Bereich der Prävention und Bekämpfung von Doping. Das BMI beabsichtigt in diesem Zusammenhang schrittweise seine finanzielle Förderung an die Umsetzung von weiteren Integritätsmaßnahmen zu knüpfen.«"
(Deutscher Bundestag, Sportausschuss, Ausschussdrucksachse 19(5)283 vom 14.12.2020.)
Erste Vorwürfe in Deutschland
In Deutschland äußerten sich erstmals Ende November 2020 im Magazin "Der Spiegel" deutsche Top-Athletinnen des Turnens öffentlich zu Trainingsmethoden und Umgangsformen und erhoben schwere Vorwürfe der Ausübung psychischer Gewalt und der Abgabe von Medikamenten ohne ärztliches Rezept zu Lasten einer Trainerin. Durch eine durch das DTB-Präsidium eingesetzte unabhängige Untersuchung mittels einer Kanzlei und einer Psychologin wurden die in den Medien erhobenen Vorwürfe bestätigt.
Es wurde festgestellt, dass...
- … bei 17 Fällen hinreichende Anhaltspunkte für psychische Gewalt, ausgeübt durch eine Trainerin, vorliegen („übermäßiges Vorkommen und/oder ein wiederkehrendes Muster bilden“). Einzelne Athletinnen berichten zudem von Suizidgedanken, Selbstverletzungen und (starken) Traumatisierungen.
- … es in mehreren Fällen eine Abgabe von Schmerzmitteln durch die Trainerin an Turnerinnen gab.
- … dass die Trainerin in einem Fall das Opioid Tilidin an eine Turnerin zur Einnahme bei Wettkämpfen abgegeben hat und die betreffende Turnerin unter Einfluss dieses Medikaments bei einem internationalen Wettkampf gestürzt ist.
Forderung von Athleten Deutschland e.V.
nach einem unabhängigen Zentrum für Safe Sport
Psychische, physische und sexualisierte Gewalt und Missbrauch stellen im Leistungs- und Breitensport ein weitverbreitetes Problem dar. Mit den „Anregungen für ein Unabhängiges Zentrum für Safe Sport“ möchte Athleten Deutschland e.V einen Beitrag zur umfassenden Bekämpfung dieser Gefahren leisten.
Sportausschusssitzung des Bundestages vom 24. Februar 2021
Auszüge Stellungnahme der Athletensprecherin des Turn-Team Deutschland
Der Zwang, der Druck, die Beschimpfungen, die Essstörungen, die körperlichen und seelischen Verletzungen waren bisher absolute Tabuthemen für uns. Alle wissen davon, nur die Wenigsten trauen sich darüber zu sprechen, weil sie Konsequenzen fürchten. Es besteht die Angst, aus dem Nationalkader gestrichen zu werden, in der Trainingsgruppe ausgegrenzt zu werden, interne Konkurrenzkämpfe zu verlieren und ganz grundsätzliche Schwäche zu zeigen. Die Gründe, warum die meisten bisher schweigen, sind vielfältig.
Die Trainingsmethoden sind teilweise weniger rabiat und das Wiegen findet nicht mehr öffentlich statt. Es gibt mittlerweile reichhaltige und abwechslungsreiche Nahrung beim Nationalmannschaftslehrgang. Ich bin auch dagegen, dass das Verhalten von einzelnen Trainer*innen pauschalisiert wird und alle Trainer*innen unter Generalverdacht gestellt werden, dass sie per se alles falsch gemacht haben in ihrer Karriere.
Dazu (Zum Schutz vor Gewalt) hat der DTB bereits eine Vielzahl an Konzepten erarbeitet. Oft fehlt aber der Bezug zwischen den Konzepten und dem Geschehen in der Halle. Eine sichtbare und spürbare Veränderung setzt voraus, dass die Konzepte und Richtlinien mit Überzeugung umgesetzt werden.
Konzepte
Verabschiedung des Stufen-Modells Prävention von sexualisierter Gewalt (Richtlinien und Qualitätsstandards zur Prävention sexualisierter Gewalt) durch die Deutsche Sportjugend (dsj) im März 2018. Das dsj-Stufenmodell beschreibt die Mindeststandards zur Prävention von sexualisierter Gewalt für die dsj und ihre Mitgliedsorganisationen. Die Umsetzung ist eine notwendige Voraussetzung für die Weiterleitung von Zuwendungen durch die dsj ab dem Jahr 2019.
Verabschiedung des Stufen-Modells Prävention sexualisierte Gewalt des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) durch die Mitgliederversammlung des DOSB im Dezember 2020. Dieses ist bindend für alle Mitgliedsorganisationen.
Im Jahr 2019 Einrichtung des “Runden Tisches” durch das DTB-Präsidium. Entwicklung des Konzeptes zur Prävention von sexualisierter Gewalt. Verabschiedung des Konzeptes und eines Interventionsleitfadens durch das DTB Präsidium im Juli 2020. Eine Kultur des Hinsehens und des Handelns soll weiterentwickelt werden.